Rosas kurzes Leben
In ihrer Kolumne in Ausgabe 3/22 erzählte Hebamme Carole Lüscher von Baby Rosa und seinen Eltern, die während der Schwangerschaft erfuhren, dass ihre Tochter nach der Geburt keine Überlebenschancen haben wird. Nun ist die Zeit für Begrüssung und Abschied gekommen.
Die Ärzte gaben Lena und Joel wenig Hoffnung, dass ihre schwerkranke Tochter Rosa bis zum Ende der Schwangerschaft leben würde, geschweige denn die Geburt überleben. Trotzdem, oder gerade deshalb, entschieden sich die beiden, jeden Tag mit Rosa als Geschenk anzunehmen und die Schwangerschaft fortzusetzen. Als der Geburtstermin näher rückt, flammt in ihnen die Hoffnung auf, dass sie Rosa vielleicht doch lebend in den Armen halten würden, und sie fragen mich, ob doch eine Hausgeburt möglich wäre. Nach einem erneuten runden Tisch mit Lena, Joel, dem Neonatologen, der Gynäkologin und meiner Teamkollegin sind wir uns einig, dass es keine medizinischen Kontraindikationen für eine Hausgeburt gibt. Für die palliative Sterbebegleitung von Rosa zu Hause kontaktiere ich einen Kinderarzt, der ebenfalls seine Unterstützung zusichert.
In den Tagen vor der Geburt hat Lena immer wieder stundenweise Wehen, doch richtig losgehen will es nicht. Lena versucht weiter stark zu sein, doch ihre Anspannung ist deutlich spürbar: «Nun haben wir es so weit geschafft, dass ich einerseits möchte, dass die Geburt losgeht, da ich Angst habe, dass Rosa vorher noch stirbt, und andererseits habe ich Angst, loszulassen, da ich weiss, dass das heisst, dass sie dann bald stirbt.» Die Geburt beginnt nach weiteren zwei Tagen emotionaler Achterbahn, geht dann aber rasch voran. Als Lena an das soeben geborene Köpfchen greift, spürt sie, dass Rosa lebt, denn diese bewegt sich kräftig. Lena hebt den Blick zu Joel, der sie stützt, und ruft «Sie lebt!» Nun ist es Joel, der gleichzeitig zu weinen und zu lachen beginnt. Rosa hustet und beginnt zu atmen, ein leises Wimmern folgt.
Wie alle Eltern sind Lena und Joel überwältigt vom Anblick des kleinen nassen Wesens. Wir helfen den dreien ins Bett, wo wir sie zudecken. Rosa atmet zuerst unregelmässig, dann immer regelmässiger. Die Plazenta wird problemlos geboren, und ausser dass wir Hebammen regelmässig die Blutung kontrollieren, sitzen wir einfach da und lassen die drei ihre kostbare Zeit geniessen. Der Kinderarzt kommt und geht bald wieder. Rosa zeigt keine Anzeichen von Schmerzen oder Stress. Nach drei Stunden kommen auch Eva und Hans, Lenas Eltern, um ihre Enkelin zu begrüssen und gleichzeitig zu verabschieden. Ihre Augen leuchten ebenso wie die der Eltern. Rosa ist ruhig, öffnet ihre Augen und schaut interessiert in Richtung ihrer frischgebackenen Grosseltern. Evas Hände zittern, als sie Rosa liebevoll über das Köpfchen streicht, Hans’ Augen füllen sich mit Tränen. Alle sitzen rund ums Bett, Kerzen brennen, wir flüstern, lachen, bewundern Rosa, die still zuhört. Später essen wir etwas – ein kleines bisschen Normalität. Eva und Hans gehen, drücken ihre Tochter und ihren Schwiegersohn lange und lassen sie auf ihren schweren Weg gehen, Rosa bald loslassen zu müssen. Rosas Herz hört nach 10 Stunden auf zu schlagen, auf Papas Bauch, friedlich schlafend. 10 Stunden, die zu den berührendsten und zugleich traurigsten in meiner Hebammenlaufbahn gehören.