Wenn sich Spannungen lösen
Die Grossmutter des Neugeborenen ist vor vielen Jahren gestorben. Gerade im Wochenbett aber wird sie so schmerzlich vermisst wie noch nie.
s ist noch dunkel, als ich eine halbe Stunde nach dem Anruf von Aline ankomme. Daniel öffnet mit der zwei Tage alten Mara auf dem Arm die Türe. Sie saugt kräftig an seinem kleinen Finger. «Ich konnte sie beruhigen, aber lange nützt das wohl nicht mehr. Danke, dass du gleich gekommen bist. Aline geht es nicht gut», sagt er besorgt. Aline erwartet mich mit nackten Brüsten, sitzend im Bett. Die Stimmung erinnert mich an die Geburt, die vor ziemlich genau 48 Stunden in demselben Raum stattgefunden hat. «Es ist so gemein! Die Milch ist da, aber sie fliesst nicht. Mara kann die Warzen nicht mehr fassen, so prall sind sie. Und es tut so weh, ich kann sie nicht mal mehr anfassen. Schau mal diese Ungetüme an. Ich weiss nicht, wo die plötzlich herkommen!», sagt sie halb lachend, halb weinend und schaut an sich hinunter. Ich setze mich auf den Bettrand. «Ja, das sieht wirklich schmerzhaft aus. Aber das kriegen wir hin.»
Nachdem ich die Brust behutsam abgetastet habe, ist mir klar, dass das Ansetzen ohne Massage vorher kaum möglich ist. Alles ist gestaut und verhärtet – ein starker Milcheinschuss. «Ich weiss, das ist jetzt nicht das, was du hören willst, aber ich denke, wir müssen zuerst massieren, damit du nachher ansetzen kannst.» Aline schaut mich entsetzt an. «Kannst nicht du das machen? Dann kann ich mich darauf konzentrieren, zu entspannen. Oder es versuchen.» Daniel setzt sich mit Mara auf seine Seite des Bettes und reicht mir das Stillöl. Es ist still, intim. Ab und zu hört man ein Glucksen von Mara, die ruhig an Daniels kleinem Finger saugt.
Nach ein paar Minuten löst sich die Spannung in Aline, aber auch in der Brust. Bald beginnt die Milch zu fliessen. Tropfen fallen von oben hinab auf meine massierenden Hände. Es sind Tränen, die still über Alines Wangen rinnen, zuerst einzelne, dann Bäche. «Ich vermisse sie so sehr … Ich habe sie noch nie so vermisst, wie in diesem Moment», bricht es aus Aline heraus. Ich halte inne und nehme stattdessen ihre Hand. Ich weiss, dass sie ihre Mutter meint, die an Krebs gestorben ist, als Aline 13 Jahre alt war. Viele Male hatten wir in der Schwangerschaft darüber gesprochen. Das Vermissen, die Konfrontation mit den Gefühlen der Trauer, welche in der Familie nie Platz hatten. Jetzt sind sie da, die Tränen, die immer zurückgehalten wurden und vor denen Aline so Angst hatte. Wir sitzen alle still da und sehen zu, wie die Tränen ihren Weg nach draussen finden. Aline bemerkt erst nach einer Weile, dass die Brust tropft. Sie schnieft und lacht: «Was für eine Überschwemmung!» Mit dem Nuscheli putzt sie sich die Tränen und die Milch ab. «Danke», sagt Aline zu uns und nimmt dann Mara aus Daniels Arm. «Und Danke für deine Geduld, meine Kleine». Wenig später liegt Mara zufrieden trinkend an Mamas Brust. Aline und Daniel versinken in die Ruhe, die sich mit den regelmässigen Schluckgeräuschen im Raum ausbreitet. Wie vor zwei Tagen ziehe ich mich nun zurück. Meine Arbeit ist für diesen Moment getan und ich werde am späten Nachmittag nochmals nach ihnen sehen.